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Titel
Legacy of Blood. Jews, Pogroms, and Ritual Murder in the Lands of the Soviets


Autor(en)
Bemporad, Elissa
Erschienen
Anzahl Seiten
237 S.
Preis
£ 47.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Hohler, Historisches Seminar, Ludwig-Maximillians-Universität München

In ihrem Buch Legacy of Blood: Jews, Pogroms and Ritual Murder in the Lands of the Soviets verbindet Elissa Bemporad zwei zentrale Themen russisch-jüdischer Geschichte: die sogenannte Ritualmordanklage, also die Vorstellung, Juden würden aus rituellen Zwecken christliche Kinder töten, zum anderen antisemitische Gewalt in Form von Pogromen, welche seit 1881 die jüdischen Gemeinden in Russland erschütterten. Anhand dieser Thematiken fragt sie nach der Stellung der Juden in der Sowjetunion beziehungsweise deren Verhältnis zum Staat und zeigt, dass der Wandel dieser Beziehungen zwischen der Machtergreifung 1917 bis zur Ärzteverschwörung 1953 auf das engste mit dem sowjetischen Modernisierungsprojekt verbunden war. Elissa Bemporad bedient sich hierbei vor allem den staatlichen Reaktionen auf Ritualmordanklagen, um zu messen, inwieweit das Versprechen der Gleichstellung noch Gültigkeit hatte (S. 10).

Ausgangspunkt dieser Beziehungsgeschichte sind die antijüdischen Pogrome während des Russischen Bürgerkrieges, bei denen über 150.000 Juden ihr Leben verloren und ganze Gemeinden ausgelöscht wurden. Dieser Ansatz erlaubt Elissa Bemporad eine neue Perspektive auf die Bedeutung der Bürgerkriegspogrome. Antijüdische Gewalt in Osteuropa während der Zwischenkriegszeit ist in den letzten Jahren zwar zunehmend Gegenstand der Forschung gewesen, aber, so Elissa Bemporad, die zentrale Bedeutung dieser Pogrome für das Verhältnis der Juden zum sowjetischen Staat hat bisher zu wenig Beachtung gefunden (S. 7). Da nur die sowjetische Zentralmacht die antijüdische Gewalt eindeutig verurteile, führte das jüdische Trauma dazu, dass sich viele Juden dem kommunistischen Staat zuwandten, da nur dieser ihnen Schutz, aber auch die Möglichkeit zur Rache, sowie langfristig rechtliche Gleichstellung und die Hoffnung auf sozialen Aufstieg bot. Wie es Elissa Bemporad formuliert: „Pogroms made Jews Soviet“ (S. 23).

Andererseits war der Russische Bürgerkrieg die Geburtsstunde der Legende vom „jüdischen Bolschewismus“, wonach die Juden die wahren Machthaber der Sowjetunion seien. Dieser Mythos baute auf die, im Zarenreich weit verbreitete, Vorstellung von den Juden als eigentliche revolutionäre Kraft auf und ist bis in die heutige Zeit wirksam. Indem Elissa Bemporad hier Kontinuitäten zwischen dem vorrevolutionären Zarenreich und der Sowjetunion aufzeigt, entlarvt sie die sowjetische Legende, dass die Revolution einen endgültigen Bruch in der Behandlung der Juden bedeutete.

Die Dreiecksbeziehung zwischen Juden, dem sowjetischen Staat und der Gesellschaft zieht sich durch das gesamte Buch. Wie Elissa Bemporad zeigt, blieb der Antisemitismus in Form von Ritualmordbeschuldigungen und Pogromdrohungen auch in der Sowjetunion virulent. Für viele Gegner des sowjetischen Regimes war Antisemitismus Ausdruck ihrer Opposition beziehungsweise eine Reaktion auf die gesellschaftlichen Umwälzungen durch die Sowjetisierung der Gesellschaft, die durch den sozialen und politischen Aufstieg der Juden symbolisiert wurden. Der Antisemitismus war daher häufig besonders dort ausgeprägt, wo Juden und Nicht-Juden erstmals aufeinandertrafen und miteinander konkurrierten. So nutzten viele der 19 Millionen Bauern, die im Zuge der forcierten Urbanisierung bis 1939 in die Städte zogen, den Vorwurf des Ritualmords, für Kritik am sowjetischen Staat, an der Arbeitslosigkeit und sich wandelnde Geschlechterrollen, die sie den Juden zuschrieben.

Die sowjetische Zentralgewalt auf der anderen Seite begann bereits in den 1920er-Jahren dem Rechnung zu tragen und ihre Politik zu verändern. Zwar ging das Regime oft hart gegen antisemitische Gewaltandrohungen und Verleumdungen vor, aber es fürchtete, dass eine allzu aggressive Kampagne zur Verteidigung der Juden den Mythos des „jüdischen Bolschewismus“ stärken könnte. Elissa Bemporad verdeutlicht dies am Beispiel divergierender Erinnerungspolitik bezüglich der Bürgerkriegspogrome. Das sowjetische Regime drängte die Bedeutung der Opfer als Juden in den Hintergrund, indem es vorrangig den antibolschewistischen und konterrevolutionären Charakter der Gewalt betonte. Eine Politik, wie sie auch nach dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion fortgesetzt wurde.

Als überlebende Juden nach Kriegsende 1945 bei ihrer Rückkehr vielmals auf Ablehnung der lokalen Bevölkerung trafen, konnten sie, anders als nach den Pogromen von 1917–1921, keine Hilfe seitens übergeordneter Autoritäten erwarten. Aus Angst, den Mythos des Judo-Bolschewismus weiter zu befeuern, wurden keinerlei staatliche Kampagnen ins Leben gerufen, um dem Antisemitismus entgegenzutreten. Zwar kam es kaum zu Gewaltausbrüchen, aber, wie Elissa Bemporad anhand von Ritualmordverleumdungen argumentiert, hatte sich der Status der Juden, denen auch von Seiten des Staates zunehmend Misstrauen entgegengebracht wurde, grundlegend verändert. Diese wurden in der Nachkriegszeit nicht nur nicht vehement verfolgt, wie das zuvor der Fall gewesen war, sondern vielmehr kam es zu einer Sowjetisierung und Neuinterpretation der Ritualmordlüge. Diese Strategie gipfelte 1953 im sogenannten Ärztekomplott, einer angeblichen Verschwörung von, in der Mehrzahl jüdischen, Ärzten gegen die Führung der Roten Armee zu ermorden.

Legacy of Blood ist ein ebenso bedrückendes wie beeindruckendes Buch, das neue Quellen und Perspektiven auf die Geschichte der Juden und des Antisemitismus in der Sowjetunion eröffnet. Elissa Bemporad bedient sich einer großen Bandbreite an Quellen, darunter zum Beispiel jiddischsprachige Presse, Literatur oder Bilder und deckt viele kleinere, bisher unbekannte lokale Fälle von Ritualmordbeschuldigungen auf. Zahlreiche Aspekte des Buches bieten Anknüpfungspunkte für eine weitere Auseinandersetzung mit der Geschichte des Antisemitismus in der Sowjetunion. Beispielsweise zeigt Elissa Bemporad, wie die sowjetische antireligiöse Propaganda der Zwischenkriegszeit ungewollt den Mythos des Ritualmordes befeuerte, indem sie die Bedeutung von Blut in jüdischen Ritualen hervorhob. Besonders interessant ist Elissa Bemporads Analyse der Bedeutung von Geschlecht im Zusammenhang mit Gewalt und Antisemitismus, sowohl in Bezug auf jüdische Frauen als Opfer sexualisierter Gewalt während der Bürgerkriegspogrome, als auch als angebliche Täterinnen in der Zwischenkriegszeit. Eine ähnliche Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Männlichkeit fehlt allerdings.

Der Holocaust spielt in dem Werk nur eine untergeordnete Rolle und wird auf nur wenigen Seiten abgehandelt, denn das Interesse von Elissa Bemporad gilt in erster Linie Pogromen und Ritualmordbeschuldigungen auf Gebieten, die nicht von Deutschen eingenommen wurden. Sie räumt ein, dass die deutsche Politik in den besetzten Gebieten zu Spannungen zwischen Juden und anderen Sowjetbürgern führten, die auch nach dem Krieg weiterhin anhielten. Dennoch hätte man sich angesichts der Zentralität des Mythos vom „jüdischen Bolschewismus“ für die nationalsozialistische Propaganda in den besetzten Gebieten und darüber hinaus eine etwas ausführlichere Auseinandersetzung gewünscht.1

Insgesamt gelingt es Elissa Bemporad durch die Verflechtung von antisemitischer Gewalt, Ritualmordanklage und dem Mythos des „jüdischen Bolschewismus“ eindrücklich das wechselvolle Verhältnis zwischen den sowjetischen Juden und dem Regime nachzuzeichnen. „The history of Soviet Jews in the interwar period and the early postwar years“, schreibt sie in ihrer Schlussfolgerung, „is one of simultaneous extraordinary empowerment and enduring vulnerability.“ (S. 147)

Anmerkung:
1 Paul Hanebrink, A Specter Haunting Europe. The Myth of Judeo-Bolshevism, Cambridge, Mass. 2018.